Hanna Granz

Übersetzungen - Gutachten - Lektorat  



Beim Übersetzen entstehen sporadisch eigene Texte – zur Übung, um das Sprachgefühl zu trainieren oder aus Lust am Schreiben. Lesen kann man sie hier.

Ohne Titel 
(in repeat)

Wo dir die Wimper und mir 

ein Sandkorn im Auge 

haben wir dem Wind 

die Stirn und Paroli 

geboten, sind wir noch 

oder nicht mehr 

haben wir uns 

und einander 

aus den Augen, aus dem Sinn 

verlorn, wo 

 

dir die Wimper, und mir 

der Sand am Strand 

Sicht und Atem 

genommen, geraubt, da 

schien der Mond 

da grüßte Orion, die Milch 

straße schäumte 

über und über, der Himmel 

erstrahlte, berührte 

die Erde, wo dir die Wimper 

und mir der Sand in den Schuhen 

schlief ein Lied zwischen zwei 

wilden Zweigen ein, starb 

 

silbern, die Nacht 

erwachte 

der Hund, Kummer 

wuchs und Kürbisse 

Maskengesichter 


Weitere Texte

Beobachtungen/Skizzen   

Wenn ich einen langen erzählerischen Atem hätte

Wenn ich einen langen erzählerischen Atem hätte, würde ich vielleicht mit der Kindheit beginnen: mit der Mietwohnung auf dem Schweinehof in Niedersachsen, die man lediglich per Aufzug erreichte. Man fuhr hoch und fand sich plötzlich im Esszimmer wieder, ein Dachschrägenfenster zur Linken, auf das bei Regen der Regen prasselte; unter den Stühlen am Tisch eine Falltür ins darunterliegende Geschoss, falls der Strom einmal ausfiel. Ich würde das Quieken in den gedrängt vollen Ställen beschreiben und das schwarzbraune Güllebecken dahinter, in dem man ertrinken konnte (davor wurden wir gewarnt); ich würde von der Wiese mitten im Hof erzählen, und von der Asphaltschlaufe, die sie umgab, damit die Landmaschinen nicht wenden mussten; mit unseren Dreirädern/Fahrrädern/Rollern zogen wir elliptische Kreise, immer rund um sie herum. Ich würde den kurzen Weg durch den Wald zum Gemüsegarten erwähnen, über den im Tiefflug Tiefflieger donnerten, gefährlich nah; ich würde die Panzerfahrzeuge im Unterholz und auf den Äckern beschreiben, Teile der Ernte verwüstend, und die Feldbettenlager in der Scheune, wo die Soldaten schliefen und Traubenzucker an uns Kinder verteilten. 

(Bundeswehrmanöver, frühe 80er Jahre) 

 

Ich würde vom Umzug ins Ruhrgebiet erzählen und den kohlerauchschwarzen Fassaden, Witten Annen Nord; vom durchdringenden Industriegeruch, der sich im Tal fing und über Straßenbahnschienen waberte. Ich würde von Häusern erzählen, die Türkenhäuser hießen, weil dort Türken wohnten, Gemüsehändler/Gastarbeiter/ganze Großfamilien, die in den 60er Jahren zum Arbeiten gekommen und anschließend geblieben waren. Vom Tante-Emma-Laden in unserer Straße würde ich berichten, der von Haus aus ein Bäcker war, mit Backstube zum Hof, wo man vor Ladenöffnung die noch warmen Brötchen kaufen konnte, zwanzig Pfennig das Stück, und wo man als Zugabe, wenn man Glück hatte, eine Rosinenschnecke bekam. Ich würde den Erdhügel vor den Schrebergärten beschreiben, auf dem wir auf Lederhosenböden hinunterrutschten, und die Lautsprecherdurchsagen vom Sportplatz, die an Sommertagen bis in den Sandkasten hinter der Schreinerei auf dem Hof vor unserer Wohnung herüberhallten, hinter dem wiederum die Bahngleise lagen, auf denen in regelmäßigen Abständen Züge vorbeiratterten, endlose Güterzüge; waren es Personenzüge, standen wir am Zaun und winkten. Ich würde auch die Frau vom Sozialamt nicht unerwähnt lassen, die prüfte, ob wir Kinder wirklich neue Winterjacken brauchten, und auch das: ob für die zwei abgewetzten Teppiche in der Wohnung nicht vielleicht doch auch noch der alte Staubsauger taugte. 

(Amtsschimmelkavallerie, späte 80er Jahre) 

 

Ich würde von dem Fachwerkhaus auf dem Höhenzug über der Ruhr berichten, in das wir umzogen, als sich die Möglichkeit dazu ergab. Über hangtaugliche Hühner in einem Garten, der – bis auf zwei Flächen – zur Bundesstraße steil abfiel; über abendelange Orchester- und Theaterproben in der Schule, die dadurch zum zweiten Zuhause wurde. Von langen Autofahrten in den Urlaub würde ich erzählen (oft nachts oder in den sehr frühen Morgenstunden), wenn die Gedanken wie losgelöst ihre Bahnen zogen, in denen Welten errichtet und wieder eingerissen wurden und sich das bereits angelegte Lebensgefühl des Wartens dauerhaft etablierte; des Wartens darauf, dass etwas geschah, dass das Leben/die Liebe/das Erwachsensein, dass das FLIEGEN endlich begänne, und dass das Gewicht, das zentnersteinschwere, endlich abfiele, Flügel wüchsen, um frei sein, endlich Fahrt aufnehmen zu können; eine Art Steilaufflug mit etlichen Bruchlandungen. 

(Sturm&Drang vielleicht, frühe 90er Jahre) 

 

Hätte ich einen langen erzählerischen Atem, würde ich von alldem berichten. 

 

Stattdessen: Skizzen, aus dem Ärmel Geschütteltes.  Bodennah. 

(Übungseinheiten, 2020er Jahre) 


(19.07.2021)

Weitere Texte

Zuhausebleiben. Ein Tagebuch

15. März 2020

Die Sonne scheint. Schulen und Kindergärten sind ab heute für zunächst fünf Wochen geschlossen. Im Vorbeigehen schaue ich durch das Fenster im oberen Flur, klimatisch eine Zwischenzone: Vom noch unrenovierten Dachboden, der mit einer Wolldecke vom Wohnbereich abgetrennt ist, zieht es kalt herein. Draußen ist es bereits warm, es verspricht ein schöner Tag zu werden. Anders als ursprünglich geplant, hat M. das alte, einflüglige Fenster wieder eingesetzt. Das neue hatte sich als Fehlkauf erwiesen, zweiflüglig sollte es sein, aber eben ein Stulpfenster, keines mit Mittelpfosten, bei dem der Steg so breit ist, dass man das Gefühl hat, man säße hinter Gittern. Finanziell ist der Rückbau ein Verlust, aber wir brauchen Licht. In den nächsten Monaten drohen ohnehin Freiheits-Einschnitte, was zum Zeitpunkt der Entscheidung allerdings noch nicht absehbar war. Der Blick sollte bleiben, auch von diesem Fenster aus, das im Grunde nur ein Vorbeigehfenster ist, immerhin jedoch Licht in unser nicht allzu sonnenverwöhntes Haus einlässt.

Weiterlesen