Hanna Granz

Übersetzungen - Gutachten - Lektorat  



Beim Übersetzen entstehen sporadisch eigene Texte – zur Übung, um das Sprachgefühl zu trainieren oder aus Lust am Schreiben. Lesen kann man sie hier.

Umbrella

 

Hätte ich uns

als das Licht so von oben

den Schirm, den Hut, die

Sonnenbrille holen 

sollen, dass es uns nicht 

so blendete, oder wollten wir

wollten wir vielleicht 

einfach blinzeln, maul

wurfgleich, einander

nicht klar, nicht ganz

sehen, unscharf und 
an den Rändern
leicht verschwommen?

 

Scharf umrissen erst jetzt, da ich

das Weite gesucht, ohne

dich mir nach

gejagt bin? (Herbstlaub

im Haar, und 

wohin, weiß der Wind …)

 

Hab ich den Schirm, den Hut 

die Sonnenbrille jetzt 

dabei, für mich oder

brauch ich sie nicht, ist

das Licht für mich

wie es jetzt fällt, gerade recht 

– in diesem Winkel – Schatten

schlag, rechts

und links und

klar, ich hätte

Schirm, Hut und Sonnenbrille 

einstecken können

bei der Abreise, aber der Regen

hat vielerlei 

Ambitionen

weggewischt. Brauche 

 

nun eigentlich 

nur noch den Schirm, spanne 

ihn auf, Flügel 

wachsen aus Stock und 

Armen überkopf; hoch

geht es hinauf, und fort 

 

(und heim?)


Weitere Texte

Beobachtungen/Skizzen   

Wenn ich einen langen erzählerischen Atem hätte

Wenn ich einen langen erzählerischen Atem hätte, würde ich vielleicht mit der Kindheit beginnen: mit der Mietwohnung auf dem Schweinehof in Niedersachsen, die man lediglich per Aufzug erreichte. Man fuhr hoch und fand sich plötzlich im Esszimmer wieder, ein Dachschrägenfenster zur Linken, auf das bei Regen der Regen prasselte; unter den Stühlen am Tisch eine Falltür ins darunterliegende Geschoss, falls der Strom einmal ausfiel. Ich würde das Quieken in den gedrängt vollen Ställen beschreiben und das schwarzbraune Güllebecken dahinter, in dem man ertrinken konnte (davor wurden wir gewarnt); ich würde von der Wiese mitten im Hof erzählen, und von der Asphaltschlaufe, die sie umgab, damit die Landmaschinen nicht wenden mussten; mit unseren Dreirädern/Fahrrädern/Rollern zogen wir elliptische Kreise, immer rund um sie herum. Ich würde den kurzen Weg durch den Wald zum Gemüsegarten erwähnen, über den im Tiefflug Tiefflieger donnerten, gefährlich nah; ich würde die Panzerfahrzeuge im Unterholz und auf den Äckern beschreiben, Teile der Ernte verwüstend, und die Feldbettenlager in der Scheune, wo die Soldaten schliefen und Traubenzucker an uns Kinder verteilten. 

(Bundeswehrmanöver, frühe 80er Jahre) 

 

Ich würde vom Umzug ins Ruhrgebiet erzählen und den kohlerauchschwarzen Fassaden, Witten Annen Nord; vom durchdringenden Industriegeruch, der sich im Tal fing und über Straßenbahnschienen waberte. Ich würde von Häusern erzählen, die Türkenhäuser hießen, weil dort Türken wohnten, Gemüsehändler/Gastarbeiter/ganze Großfamilien, die in den 60er Jahren zum Arbeiten gekommen und anschließend geblieben waren. Vom Tante-Emma-Laden in unserer Straße würde ich berichten, der von Haus aus ein Bäcker war, mit Backstube zum Hof, wo man vor Ladenöffnung die noch warmen Brötchen kaufen konnte, zwanzig Pfennig das Stück, und wo man als Zugabe, wenn man Glück hatte, eine Rosinenschnecke bekam. Ich würde den Erdhügel vor den Schrebergärten beschreiben, auf dem wir auf Lederhosenböden hinunterrutschten, und die Lautsprecherdurchsagen vom Sportplatz, die an Sommertagen bis in den Sandkasten hinter der Schreinerei auf dem Hof vor unserer Wohnung herüberhallten, hinter dem wiederum die Bahngleise lagen, auf denen in regelmäßigen Abständen Züge vorbeiratterten, endlose Güterzüge; waren es Personenzüge, standen wir am Zaun und winkten. Ich würde auch die Frau vom Sozialamt nicht unerwähnt lassen, die prüfte, ob wir Kinder wirklich neue Winterjacken brauchten, und auch das: ob für die zwei abgewetzten Teppiche in der Wohnung nicht vielleicht doch auch noch der alte Staubsauger taugte. 

(Amtsschimmelkavallerie, späte 80er Jahre) 

 

Ich würde von dem Fachwerkhaus auf dem Höhenzug über der Ruhr berichten, in das wir umzogen, als sich die Möglichkeit dazu ergab. Über hangtaugliche Hühner in einem Garten, der – bis auf zwei Flächen – zur Bundesstraße steil abfiel; über abendelange Orchester- und Theaterproben in der Schule, die dadurch zum zweiten Zuhause wurde. Von langen Autofahrten in den Urlaub würde ich erzählen (oft nachts oder in den sehr frühen Morgenstunden), wenn die Gedanken wie losgelöst ihre Bahnen zogen, in denen Welten errichtet und wieder eingerissen wurden und sich das bereits angelegte Lebensgefühl des Wartens dauerhaft etablierte; des Wartens darauf, dass etwas geschah, dass das Leben/die Liebe/das Erwachsensein, dass das FLIEGEN endlich begänne, und dass das Gewicht, das zentnersteinschwere, endlich abfiele, Flügel wüchsen, um frei sein, endlich Fahrt aufnehmen zu können; eine Art Steilaufflug mit etlichen Bruchlandungen. 

(Sturm&Drang vielleicht, frühe 90er Jahre) 

 

Hätte ich einen langen erzählerischen Atem, würde ich von alldem berichten. 

 

Stattdessen: Skizzen, aus dem Ärmel Geschütteltes.  Bodennah. 

(Übungseinheiten, 2020er Jahre) 


(19.07.2021)

Weitere Texte

Zuhausebleiben. Ein Tagebuch

15. März 2020

Die Sonne scheint. Schulen und Kindergärten sind ab heute für zunächst fünf Wochen geschlossen. Im Vorbeigehen schaue ich durch das Fenster im oberen Flur, klimatisch eine Zwischenzone: Vom noch unrenovierten Dachboden, der mit einer Wolldecke vom Wohnbereich abgetrennt ist, zieht es kalt herein. Draußen ist es bereits warm, es verspricht ein schöner Tag zu werden. Anders als ursprünglich geplant, hat M. das alte, einflüglige Fenster wieder eingesetzt. Das neue hatte sich als Fehlkauf erwiesen, zweiflüglig sollte es sein, aber eben ein Stulpfenster, keines mit Mittelpfosten, bei dem der Steg so breit ist, dass man das Gefühl hat, man säße hinter Gittern. Finanziell ist der Rückbau ein Verlust, aber wir brauchen Licht. In den nächsten Monaten drohen ohnehin Freiheits-Einschnitte, was zum Zeitpunkt der Entscheidung allerdings noch nicht absehbar war. Der Blick sollte bleiben, auch von diesem Fenster aus, das im Grunde nur ein Vorbeigehfenster ist, immerhin jedoch Licht in unser nicht allzu sonnenverwöhntes Haus einlässt.

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